Die Fülle – Das Erwachsen werden

Die Fülle

Wir wünschen uns die Fülle, die Fülle im Leben.
Wir wünschen uns, erfüllt zu sein und glücklich.

Wir streben nach der Fülle, die immer woanders zu sein scheint als wir sind.

Manchmal erleben wir Momente der Fülle.
Wir nennen dies Momente des Glücks, sie sind etwas Besonderes.
Ein intensives Naturerlebnis – vielleicht auf einem Berggipfel – in der Gemeinschaft mit Freunden im Sonnenschein; wir haben Erfolge erzielt, Erlebnisse von Nähe und Einswerdung; es wird uns Liebe, Wertschätzung und Anerkennung von anderen zuteil.
Wir sagen dann manchmal: „Das war der schönste Moment in meinem Leben“.

In so einem Moment ist alles in Ordnung.
Wir öffnen dann unseren Kanal ganz, nehmen alles, was in diesem Moment liegt, in uns auf, lassen es in uns hinein.
Da wir nichts zurückgehalten haben, sind wir ganz und voll geworden.
Wir erleben eine intensive Empfindung. Eine Empfindung des Glücks.

sonnenuntergang

Doch diese Fülle bleibt nicht.
Diese Fülle bleibt nicht, weil im Leben die Gesetzmäßigkeit des Rhythmus gegeben ist. Alles ändert sich, nichts bleibt wie es ist.
Um den Zustand der Fülle erleben zu können, ist es unerlässlich, auch einen Zustand der Leere oder gar des Mangels zu kennen.
Es würde allerdings genügen, diesen Zustand zu kennen. Wir müssten ihn nicht zu unserem generellen Lebensgefühl machen.

Denn was ist Fülle überhaupt?

Fülle ist alles. – Alles, was es gibt, gehört zur Fülle.
Fülle erfahren wir, indem wir uns dem Moment vollkommen öffnen und alles in uns aufnehmen, hereinlassen und willkommen heißen, was dieser Moment hergibt.
Ganz gleichgültig, was er hergibt.
Es gibt keinen Moment, mit dem du nicht im Einklang sein könntest.

Wir sperren jedoch fast ständig einen Großteil der Fülle aus und fragen uns dann, warum wir nicht erfüllt sind.
Dann fangen wir an, ständig nach etwas zu streben und meinen, bestimmte Situationen für die Erfahrung von Fülle zu brauchen.
Wir sperren fast ständig einen Großteil der Fülle aus unserem Leben aus, weil wir den Moment nicht in vollem Maße in uns aufnehmen, so wie in den „unvergesslichen“ Höhepunkten unseres Lebens, als wir dachten: „In diesem Moment stimmt alles“.

Aber was stimmte und mit was stimmte es überein?

Die äußere Situation stimmte mit unserer inneren Vorstellung einer „schönen Situation“ überein.
Unser Verstand sagte uns: „Das ist eine schöne Situation“, weil diese und jene Kriterien einer „schönen Situation“ erfüllt sind.
Natürlich empfinden wir es auch als eine „schöne, angenehme Situation“. Dennoch empfinden wir diese so, weil wir uns ihr gegenüber ganz öffnen und sie ganz in uns einlassen.
Da unser Inneres das Momentane als schöne Situation erkannt hat, drückt der Verstand innerlich den Knopf „Freude“, die entsprechenden Organe schütten die entsprechenden Hormone aus und wir fühlen uns erfüllt und ganz.
So sind es unsere teils unbewussten Vorstellungen von dem, was eine schöne, erfüllende Situation ist oder nicht ist, die das Maß, wie sehr wir den Moment in uns hineinlassen, steuern.
Wenn wir also einen Moment als eine nicht besonders schöne oder erfüllende Situation klassifizieren, bewirkt das, dass wir diesen Moment auch nicht ganz in uns hereinlassen. Wir nehmen ihn nicht völlig an, weil wir uns eigentlich eine andere Situation wünschen: eine, die – wie wir meinen – mehr Erfüllung „hergibt“.
Dabei sind wir es, die die Fülle aussperren und sie nur in bestimmten Momenten zulassen.

Fülle ist immer da.

Da wir sie aussperren, entsteht eine innere Leere und ein Gefühl von Mangel, von eben nicht ganz erfüllt sein, stellt sich ein.
Leere und Mangel, die wir auf die momentane, eben „nicht besondere Situation“ projizieren, entstehen jedoch in Wirklichkeit dadurch, dass wir uns nicht völlig dem Moment öffnen und einen Großteil „draußen“ lassen.
Wir haben also somit erschaffen, was zuvor schon in unserer Erwartung da war:
Wir sagten uns: „ Das ist ein ganz normaler Moment, er beinhaltet nichts Besonderes, so brauche ich mich auch nicht besonders glücklich oder erfüllt zu fühlen“.
Denken wir nur an bestimmte langweilige Alltagssituationen. Wir denken: „Es ist immer dasselbe, nichts Besonderes. Es ist nicht gerade Urlaub, in der Sonne am Strand liegen oder Skifahren auf unberührten Tiefschnee-Hängen, nicht, seine Lieblingsmusik live dargeboten zu bekommen und nicht Sex mit dem Traumpartner oder der Traumpartnerin. Es ist nur eine ganz normale Alltags-situation, von der ich gerade nicht viel erwarte“.
Ich denke: „Das, was gerade passiert, gibt eben nicht mehr her, es hat nicht mehr Fülle.“
Doch ich sperre das Potential des Moments aus meiner Erfahrung vorneweg aus.
Jeder Moment hat alle erdenkliche Fülle, nicht nur diese Momente, in denen ich die Erfahrung der Fülle auch zulasse.
Die Fülle ist immer da, da die Fülle alles ist und nicht nur etwas Bestimmtes.
Die Fülle liegt in der Hingabe und dem Sicheinlassen auf die gesamte gegenwärtige Qualität des Moments.
Fülle ist natürlich Freude, aber auch tiefempfundene Trauer und Schmerz; Verzweiflung ebenso wie Ekstase und alles, was dazwischen liegt. Fülle ist: Alles, was in einem Moment liegt, ganz zuzulassen, ganz hereinzulassen und aufzunehmen, zu spüren, an sich heranzulassen.
Das teilweise Aussperren dessen, was ein Moment beinhaltet, führt zu Leiden. Das zeigt sich dann durch unangenehme Zustände, die man meint, immer weniger annehmen zu können.
Arbeit und Anstrengung kann Fülle sein, wenn du es annehmen kannst. Plage und Qual wird es durch Nichtannahme.
Die Erfahrung von Verlust kann als Fülle erlebt werden. Das Verlorene festhalten zu wollen führt zum Leid.
Die Erfahrung von Gewinn wird oft als Fülle erlebt, aber das Behaltenwollen kehrt es ins Gegenteil und die Fülle schwindet.
Wenn nichts „Besonders“ geschieht, kann die Fülle der Ruhe empfunden werden, doch etwas anderes wollen führt zu Empfindungen von Langeweile.
Wenn etwas Angenehmes, Besonderes passiert und ich es genieße, erlebe ich Fülle. Aber im Anstreben der Wiederholung der Situation geht sie verloren, weil ich die jetzige Situation nicht nehme und mich auf ihr Potential nicht einlasse.

IMG_3677

Ein unangenehmer Zustand resultiert immer aus dem Nichtnehmen der Fülle, die ein Moment bietet.

Wenn du den Moment nicht klassifizierst, sondern dich ihm hingibst, wie er ist, lebst du in der Fülle.

Versuch`s doch mal!


Erwachsenwerden

Die Basis meiner Arbeit, die ich in der langjährigen und intensiven Auseinandersetzung mit Menschen gewonnen habe, beruht auf der Erkenntnis, dass Schwierigkeiten auf psychischer, somatischer und sozialer Ebene letztendlich in Formen der Verweigerung, ganz erwachsen zu werden, gründen. Dieses Erwachsensein ist nicht an ein bestimmtes Lebensalter gebunden, es ist ein „Erwachen jedes Menschen zu seiner wahren Größe“.

Beispiele hierfür sind u.a. zu lernen, selbstverantwortlich für sich einzustehen, durch ein rechtes Maß an Abgrenzung für sich zu sorgen, sich als Mensch in seiner Identität mit allen Stärken und Schwächen zu zeigen, seinen inneren Reichtum an andere weiterzugeben, anstatt sich zu verstecken und v.a.m. Dies möchte ich in dem Satz zusammenfassen:

„Erwachsenwerden bedeutet, sich und anderen nichts schuldig zu bleiben“.

Das heißt, auch eine Haltung einzunehmen, welche im Innen und im Außen Ordnung schafft und beziehungsmäßig dort ein Gleichgewicht herstellt, wo dies verloren wurde. Das führt zu einem Mittelweg zwischen übermäßiger Zurück-
nahme und Machtkampf.

Aus meiner bisherigen Arbeitserfahrung zeigt sich ein „Generalhemmschuh“ für das Erwachsenwerden und somit für den Heilungsprozess: Es ist der Umstand, dass wir oft unbewusst an einer Opferrolle festhalten, um einem vermeintlichen „Täter“ zu beweisen, dass er schlecht an uns gehandelt hat. Meist sind diese „Täter“ die Eltern, wobei natürlich auch andere Menschen diese Rolle übernehmen können, wie z.B. andere Erzieher, (Ex-)Partner, Vorgesetzte usw.

Wir können uns durch dieses Festhalten nicht in positive Lebensbereiche entwickeln, weil wir dann unbewusst das Gefühl hätten, den „Täter“ aus seiner Schuld und Verantwortung zu entlassen. So sind wir oft lieber der lebende Beweis für die „Schlechtigkeit“ und „Unfähigkeit“ eines anderen und binden uns in negativer Weise unbewusst an ihn. Dies ist oft die Ursache dafür, dass sich manchmal trotz Inanspruchnahme psychotherapeutischer Arbeit keine Veränderung bei Schwierigkeiten zeigt.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass Schwierigkeiten im Leben immer Anzeichen für „blinde Flecken“ im Prozess des Erwachsenwerdens sind. Probleme zeigen durch ihre Symptome, in welchen Bereichen wir Kind geblieben sind und Verantwortung abgeben. Dies ist als Zeichen anzusehen, dass es Zeit ist, den Prozess wieder anzukurbeln, um aus der Stagnation, die mit den Schwierigkeiten einhergeht, herauszukommen.

Jeden Moment so zu leben, dass man sich selbst und anderen nichts schuldig bleibt, ist sicherlich eine Utopie.
Aber das Ziel meiner pädagogisch-emanzipatorischen Arbeit ist es, dem Rat- suchenden „Werkzeuge“ an die Hand zu geben, die ihm helfen, die Blockaden und Ängste, die im Prozess des Erwachsenwerdens in Erscheinung treten, zu transformieren. Dies nimmt den Problemen die Notwendigkeit, da zu sein.familie

„Es ist nie zu spät, eine schöne Kindheit zu haben“