Die Entstehung der Schuld

Warum wir uns verstricken

Die Entstehung der Schuld

Ein Spiel mit systemischen, philosophischen und spirituellen Aspekten

Das Phänomen „Schuld“ ist sicherlich der Hemmschuh Nr. 1, uns selbst anzunehmen wie wir sind und uns unseren vollen Selbstwert zuzugestehen. In der systemischen Arbeit und der Arbeit mit dem Familienstellen geht es sogar mitunter nicht nur um individuelle Schuld. Wir begegnen dort auch den systemischen Verstrickungen, die meines Erachtens nur aufgrund innerer Schuld entstehen können (denn sie dienen so dem Ausgleich dieser Schuld) und führen dazu, mir selbst, dem Anderen und auch dem Leben immer mehr schuldig zu bleiben.

Mir sind Parallelen aufgefallen zwischen dem systemischen Denken und dem ganz universellen Entstehen des Phänomens „Schuld“, die ich hier schildern möchte und die uns vielleicht einen Schritt näher an das Verstehen des Phänomens „Schuld“ bringen könnten.

Ich möchte zuerst einmal das „Grundgerüst“, wie Verstrickungen entstehen und wie sie gelöst werden können, aus meiner Sicht schildern. Das dürfte zwar für alle Aufsteller Allgemeingut sein, doch möchte ich dann diese Zusammenhänge auf das essentielle Entstehen von „Schuld“ übertragen. Dies wiederum sollte ein Erklärungsmodell bieten für die Frage, wie Verstrickungen, auch in einem spirituellen Kontext, überhaupt entstehen können.

Schauen wir uns also zuerst einmal die Gesetzmäßigkeiten an, die uns die Arbeit mit dem Familiensystem gezeigt hat.

In der Arbeit mit dem Familienstellen oder in jeglichen Systemaufstellungen überhaupt konnten wir sehen, dass sich jedes System verhält wie eine Homöostase, auch Fließgleichgewicht genannt.

Der Begriff der Homöostase wird in Wikipedia folgendermaßen definiert: Homöostase (altgriechisch ὁμοιοστάσις homoiostásis „Gleichstand“) bezeichnet die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichtszustandes eines offenen dynamischen Systems durch einen internen regelnden Prozess. Sie ist damit ein Spezialfall der Selbstregulation von Systemen. Der Begriff wird in zahlreichen Disziplinen wie zum Beispiel in der Physik, Chemie, Biologie, Ökologie, in den Wirtschaftswissenschaften, der Soziologie, der Psychologie, der Medizin oder in der Rechtswissenschaft angewendet.

Die Homöostase muss immer in Balance, d.h. ausgeglichen und vollständig sein. Ist sie es nicht, weil sie durch irgendein Ereignis in ein Ungleichgewicht gebracht wurde, gleicht sie sich durch eine systemimmanente Balancedynamik wieder aus.

Das, was die Homöostase in einem Familiensystem ins Ungleichgewicht bringen kann, sind beispielsweise schwere Schicksalsschläge oder Personen oder Situationen, die keinen Platz bekommen haben und somit ausgeklammert sind. Dadurch ist die Vollständigkeit der „Einheit“ des Systems gestört. Das Familiensystem stellt die Homöostase dadurch wieder her, dass ein Familienmitglied meist späterer Generation ein Symptom entwickelt. Das Symptom ist nun Repräsentant dessen, was im System keinen Platz bekommen hat und stellt auf diese Weise die Vollständigkeit wieder her. Das Symptom kann in seiner Symptomsprache an das, was im Familiensystem nicht gesehen oder gewollt ist, erinnern. In der Art und Weise, wie sich das Symptom zeigt oder in dem, was es bewirkt, weist es oft auf das hin, was im System fehlt und integriert werden will. So kann das Hervorstoßen obszöner Worte in einem Tourette Syndrom der Versuch sein, einen Todesschrei auszustoßen, der jedoch im wahrsten Sinne des Wortes jemandem im Halse steckenblieb. Die obszönen Ausdrücke können Hinweis sein auf das sexuelle Thema, in der sich diese „nicht gesehene“ Geschichte ereignet hat (dies Beispiel stammt aus einer Supervisionssitzung Bert Hellingers mit einer Klientin von mir, nachzulesen in dem Buch „Ordnungen des Helfens“ von Bert Hellinger, sowie zu sehen im gleichnamigen Video).

Wenn die Homöostase in einem aus der „Ordnung“ geratenen Mehrgenerationsfamiliensystem dadurch ausgeglichen wird, indem jemand ein Symptom trägt, nennen wir dies „Ausgleich im Negativen“. Der „Ausgleich im Positiven“ wäre dagegen, wenn jemand im Angesicht des Schicksals eines Anderen sein Leben und seine Potentiale voll und ganz annimmt und lebt. Ein wundervoller Lösungssatz dazu stammt von Bert Hellinger, den ein Klient (oder ein Repräsentant eines Klienten) gegenüber einem Familienmitglied, mit dem er verstrickt war, äußert: „ …jetzt gehe ich in mein eigenes Leben und mache etwas Gutes daraus, auch Dir zur Ehre und zum Andenken“. Wird dieser Satz im Inneren vollzogen, erkennt der Sprecher, dass…

  1. … meine Verstrickung weder dem andern noch mir hilft.
  2. … die Verstrickung keine Not wendet, sondern im Gegenteil noch mehrt, weil sich ja der Klient dadurch dasselbe oder ein ähnliches Schicksal wählt.
  3. … sie eine Anmaßung dem anderen Menschen sowie dem Schicksal gegenüber darstellt.
  4. …derjenige sich verstrickt, indem er unbewusst für den anderen etwas tragen will, diesem etwas wegnimmt, das dieser zu seiner Entwicklung und seinem Wachstum braucht. Jeder kann nur mit seinem eigenen Schicksal umgehen.
  5. … derjenige, der sich verstrickt, sein eigenes Leben und sein eigenes Schicksal nicht nimmt.

Im Vollzug der oben genannten Lösungssätze jedoch wendet sich der Klient aus dem Schicksal und den Angelegenheiten eines Anderen heraus und seinem eigenen zu, im Idealfall ohne Schuldgefühle, da ich ja sehe, dass das für beide eine viel bessere Lösung ist, als Teil einer endlosen Kette von Verstrickungen zu sein.

Wir können also beim Familienstellen beobachten, dass ein Späterer für jemand Früheren eine Last auf sich nimmt oder ihm ähnlich wird, um ihm (vermeintlich) zu helfen, oder an ihn zu erinnern. Innerlich wirkt dabei eine Art „blindes Gewissen“, wie wir es nennen, das dem, der sich verstrickt nahelegt, diesen Ausgleich im Negativen zu machen. Er wird dabei quasi Sklave der Homöostase, die über ihn einen Ausgleich sucht und der ihm eine Last, eine Krankheit z.B, manchmal bis zur bitteren Neige tragen lässt. Um aus diesem unbewussten Computerprogramm der Verstrickung in den Bereich des positiven Ausgleichs zu gelangen, muss eine Stufe der Bewusstwerdung genommen werden. Die Systemaufstellung ist die Hilfestellung, um diese Stufe zu nehmen. Durch den inneren Vollzug wird die Verstrickung aufgelöst und die oben genannten Punkte 1 – 5 werden mehr oder weniger bewusst. Mit dieser Bewusstwerdung entsteht eine viel größere Möglichkeit der Selbst- Gestaltung des Lebens.

Wenn der Ausgleich im Negativen doch so unsinnig und zerstörerisch ist, warum wird er doch unbewusst von Menschen gewählt?

Man könnte natürlich sagen, damit sich der Mensch bewusst zum Leben entscheiden kann, braucht er eine Alternative. Doch wenn all diese Verstrickung so unbewusst und durch das „blinde Gewissen“ so ferngesteuert abläuft, wo hat man da eine Entscheidungsmöglichkeit?

So denke ich, dass man in den essenziellen Urgrund des Seins vorstoßen muss, um zu ergründen, warum Menschen unbewusst versuchen wollen, ein Schicksal zu tragen, das ihnen Lebensqualität und Gesundheit raubt. Auch überdies hinaus können wir beobachten, dass wir Menschen das Leiden geradezu suchen, immense Kraft aufwenden, Teile des Selbst massiv zu unterdrücken und man sich aufgrund innerer, unbewusster Werte selbst den Selbstwert vorenthält, den man sich zuweisen könnte. Theoretisch wäre ja alles ganz einfach, man nimmt sich selbst einfach an, wie man ist, denn außer den inneren Werten und Maximen könnte einem nichts davon abhalten, das zu tun. So könnten wir uns den vollen Selbstwert zuweisen und verantwortungs- und liebevoll mit uns und anderen umgehen. Wir könnten „Ja“ sagen zum Leben, wie es ist und ohne Schuldgefühle genießen.

Doch etwas scheint uns zu hindern, denn wir kreieren immer wieder Angst, Schuld und Leid. Wenn wir uns noch einmal das Bild der Homöostase in Systemen vergegenwärtigen, könnte man auf die Idee kommen, dass all das Leid, das wir ja offensichtlich durch innere Interpretation der Dinge kreieren, ein Ausgleich im Negativen darstellt. Nur – was muss hier ausgeglichen werden?

Werfen wir dabei einmal einen Blick auf eine anderes homöostatisches System, nämlich unser körperliches, geistiges und seelisches Gleichgewicht und die Regulation von „Krankheit“ und Gesundheit.

Man könnte sehen, dass das, was wir „Krankheit“ nennen, nicht die wahre Krankheit ist. Denn wenn man genau hinschaut, erkennt man, dass die „Krankheit“, die die Körper-, Geistes- und Seeleneinheit kreiert, nur ein Versuch ist, die nötige Homöostase trotz einer „Störung“ des Systems wiederherzustellen. Die wahre „Störung“ oder Krankheit muss also wo anders liegen und das, was wir Krankheit oder ein „Symptom“ nennen, ist nur der Versuch eines Ausgleichs, eines Ausgleichs im Negativen also. Doch was ist dann die wahre Unbalance, die wahre „Krankheit“?

Ein Spruch Lao Tzes hat mir jedoch geholfen zu verstehen, wo die wahre Krankheit liegt. Im Tao Te Ching heißt es in Spruch 18

Geht der große Sinn zugrunde,

so gibt es Sittlichkeit und Pflicht.

Kommen Klugheit und Wissen auf,

so gibt es die großen Lügen.

Werden die Verwandten uneins,

so gibt es Kindespflicht und Liebe.

Geraten die Staaten in Verwirrung,

so gibt es die treuen Beamten. (Übersetzung: Richard Wilhelm)

Die wahre „Abweichung“, „Unbalance“, das an dem wir wirklich kranken ist also, dass uns der große Sinn verloren geht und wir nun Ersatz (Ausgleich) suchen in künstlichen Gesetzen und Moral. So sind es also innere Haltungen, die unser inneres Gleichgewicht stören. Innere Haltungen, die z.B. der Buddhismus mit Unwissenheit oder Verblendung bezeichnet. Wir sehen also nicht klar, halten uns an Illusionen fest, sind zu egozentrisch, verpuffen damit zu viel Lebensenergie und können unsere innere Körper-, Geistes- und Seeleneinheit nicht in Balance halten. Die Folge ist, dass ein Ungleichgewicht in der Homöostase durch ein Symptom ausgeglichen werden muss, um die Lebensfähigkeit des ganzen Organismus zu erhalten. Erst wenn das Symptom den Ausgleich nicht mehr erwirken kann, kommt es zu lebensbedrohlichen Situationen.

Die Lösung wäre hier, Klarheit über „den Sinn des Lebens“ zu erlangen, um, wie man sagt, „zu seiner Mitte“ (Balance) zu finden. Z.B., um zur Erkenntnis zu gelangen, dass es sinnvoller ist, im rechten Maß anderen zu dienen, als egozentrisch zu leben und illusorischen Zielen nachzujagen.

Doch auch hier stellt sich die Frage, wieso geraten wir so leicht in diese Unbalance und können unsere Mitte und somit z.B. unsere Selbstannahme so schwer halten?

Nach meinem Bild ist das Entstehen des menschlichen Lebens mit einer enormen Unbalance der gesamten Homöostase unseres Seins hier auf der Erde verbunden, die nun ständig unbewusst nach einem Ausgleich sucht. Unsere Aufgabe dabei ist, zu wählen zwischen dem Ausgleich im Negativen oder den Ausgleich im Positiven.

Was war nun dieser „Big Bang“ unseres Seins hier auf der Erde, der zu einer solchen Unbalance in unserem Inneren geführt hat?

Wenn wir uns mit der spirituellen Entwicklung unseres Lebens befassen und damit fast automatisch bei den mystischen Zugangswegen aller Kulturen landen, so ist bei allen Richtungen, sei es Hermetik, Zen-Buddhismus, Taoismus, der Mystik der Sufis und Hindus sowie in der christlichen Mystik eine Gemeinsamkeit zu sehen. Vor oder besser jenseits unserer Zeit und der Welt der Erscheinungen ist eine allumfassende Einheit zu postulieren, die alles Existierende und alle Möglichkeiten einschließt. Wir mögen dies als unseren Urgrund sehen. Dies spiegelt sich wieder in dem hermetischen und buddhistischen Wissen, in dem alles Existierende sowie der Bereich der Möglichkeiten ein geistiger Bereich ist. Das Alte Testament beschreibt dieses Stadium des „alles ist eins, ist Geist“ schlicht als „Paradies“. Ein Paradies, das wir verlassen mussten, weil wir angeblich einen “Fehler“ gemacht haben und des Paradieses nicht mehr wert und würdig waren. Doch anstelle eine Wertung in diese „Paradiesgeschichte“ zu bringen, könnten wir auch sehen, dass der „Fall“ aus dem Paradies einfach nur das war: Sich selbst als getrennt vom allumfassenden Einen zu erkennen. Sich selbst als eigenständig und abgetrennt vom allumfassenden Einen zu sehen mag zwar Illusion sein, weil die Welt der Erscheinungen „dahinter“ immer noch das allumfassende Eine, Geistige geblieben ist, aber andererseits kann nichts entstehen, wenn es sich nicht vom allumfassenden Einen absetzt.

So könnten wir den „Fall“ aus dem „Paradies“ einfach als Abspaltung in die Welt des Getrenntseins und der Dualität bezeichnen. Unsere Wirklichkeit in der Welt der Erscheinungen wäre nur eine relative, während die der absoluten Wahrheit im allumfassenden Geistigen liegt.

Nun ist es, wie es sich mir zeigt, gerade dieser „Fall“ aus der Einheit in die Getrenntheit, welcher die kollektive Homöostase unseres Menschseins sehr aus der Balance bringt, da wir tief unbewusst diesen „Fall“ (fast so wie uns das mit dem Begriff der „Erbsünde“ glaubhaft gemacht werden sollte), als schuldhaft erleben. Und tatsächlich sind wir uns durch unseren Glauben an die duale Welt die Einheit schuldig geblieben. Ich verwende hier allerdings den Begriff Schuld einfach als Funktion, an die keinerlei moralische Werte geknüpft sind. Eben wie in der Funktion des sogenannten „Blinden Gewissens“ in der familiensystemischen Homöostase.

Der „Fall“ aus der Einheit wird innerlich als ein „Mangel“ empfunden, welcher uns nun ständig antreibt, diesen Mangel wieder auszugleichen, um der „Einheit“ wieder würdig zu werden. Im Zuge dessen wird eine Möglichkeit, die „Schuld“ zu sühnen gesucht. Und diese bringt uns neben anderen „Sühneformen“, die wir kreiert haben, dazu, uns systemisch zu verstricken und eine Last auf uns zu nehmen, um am Leid oder „Unglück“ unser „Vergehen“ zu sühnen. Gleichzeitig mag, obwohl wir als aufgeklärte Menschen nicht mehr an die Erbsünde glauben, sie doch noch als archaisches Feld da sein und auf uns wirken. Obwohl das im christlichen Kulturkreis durchaus auch eine Rolle spielen kann, betrifft meine Schichtweise jedoch jeden Menschen. Es betrifft jeden Menschen, der einen Ausgleich im Negativen sucht, in dem er sich nicht voll annimmt, wie er ist und Leiden oder Verstrickung kreiert, um zu sühnen. Doch, genau wie bei der Verstrickung im Familiensystem, ist der Ausgleich im Negativen nicht die einzige Alternative der „Not-wenigkeit“. Der Ausgleich im Positiven wäre hier, die Einheit alles Existierenden wieder zu erkennen und die untrennbare Eingebundenheit in alles und mit allem. Dieses Erkennen als innerer Vollzug würde zu einem reiferen Leben führen, zu Demut, Sozialität, Solidarität, Selbstverantwortung, Selbstannahme, Selbstsicherheit und vielen anderen positiven Aspekten mehr, kurz, zu dieser inneren Mitte, von der ich weiter oben sprach. Ein Bewusstseinsquantensprung kann uns also aus dem Ausgleich im Negativen zum Ausgleich im Positiven führen und weist vielleicht auf eine Aufstellungsarbeit, die auch diese wesentlichen, spirituellen und archaischen Aspekte mit im Blick hat.