Schuld und Selbstannahme
Über Schuld und Selbstannahme Teil 1
Wir leben fast unausgesetzt in einem Verhältnis zu uns selbst, in dem wir uns einen großen Teil unseres Selbst schuldig bleiben.
Das liegt daran, dass wir uns nicht annehmen, wir wir sind. Niemand verlangt von uns, dass wir uns nicht annehmen sollten wie wir sind, niemand straft uns, wenn wir es tun und dennoch tun wir es nicht. Damit bleiben wir uns immer einen wesentlichen Teil unseres Selbst uns und anderen schuldig. Daraus entsteht im Wesentlichen unser Schuldgefühl, nicht aus den Taten und Gedanken, derer wir uns anklagen mögen. Doch diese Schuldgefühle veranlassen uns, uns immer mehr zu verlassen, zu spalten und in Frage zu stellen. Plötzlich gibt es Ideale, Moral, einschränkende Glaubenssätze, Maximen, innere Bewertungskriterien. Wir haben dann das Gefühl, nicht gut genug zu sein und uns anstrengen zu müssen, um besser zu werden. Wir müssen uns Mühe geben, um diesen und jenen Mangel auszumerzen, der noch zu den 100 % Selbstannahme fehlt. Doch wir erreichen unser Ziel nie, denn je mehr wir uns anstrengen, um so weniger erreichen wir unsere Ziele, besser zu werden. Je mehr wir uns selbst Druck machen, umso stärker kreieren wir auch einen Gegendruck aus Trotz und unsere Anstrengung geht ins Leere. Wir versuchen es vielleicht mit immer mehr Druck, doch ein zufriedenes Selbstgefühl stellt sich nicht ein. Es entsteht einzig und allein aufgrund der Annahme von uns selbst. Erst wenn wir uns selbst liebevoll umarmen und allen Teilen, Fähigkeiten, Neigungen usw. einen Platz geben, können wir besser werden und uns besser fühlen, ohne große Anstrengung. Ansonsten bleiben wir uns einen wesentlichen Teil von uns selbst schuldig.
Wir könnten uns ja nur zur Übung im Alltag immer wieder mal fragen: „Zu wie viel Prozent nehme ich mich selbst gerade an?“ Dabei kommen wir wahrscheinlich nicht auf 100 %. Doch was hindert uns, uns nicht ganz anzunehmen; was verleitet uns zur inneren Spaltung?
Sehen wir einmal auf unsere inneren Anforderungen an uns Selbst und unseren inneren Perfektionismus. Wenn Sie denken, Sie seien dagegen gefeit, sehen Sie genau hin. Und wären Sie gefeit, hätten Sie wohl annähernd 100 % Selbstwert.
Sehen wir genau hin: Sind unsere inneren Anforderungen so, dass wir ihnen gerecht werden können? Oder geben sie uns ein Gefühl ständigen Scheiterns und ungenügend Seins?
Was für eine Falle bauen wir uns da? Wir trennen uns auf diese Weise von uns selbst, ohne dass es not-wenig wäre und ohne dass es irgendjemand nützen würde (außer vielleicht der Konsum-Industrie, da wir, um den inneren Selbstwert auszugleichen, viel „Ersatz“ brauchen).
Sehen wir einmal auf uns, als seien wir vollkommen ohne Schuld, was wir in der Tat tatsächlich sind. Vielleicht kommt ein spontanes Aufatmen und eine Entspannung, gekoppelt mit dem Bewusstsein: „Dann muss ich nichts mehr nachjagen, ich bin gut so wie ich bin, ich kann mich annehmen wie ich bin“. Doch vielleicht ist gleichzeitig noch ein zweites verdichtetes Gefühl da: „Wenn ich keine Schuld mehr habe, verliere ich denn nicht auch meinen Antrieb zu streben, bin ich dann vielleicht sogar ein schlechter Mensch, weil ich „selbstgenügsam“ bin, weil ich ein Ziel erreicht habe, mich gut zu fühlen, aber jetzt nicht mehr sozial engagiert bin, letztendlich nicht mehr das „Gute“ anstrebe“. Ein bestimmtes inneres Gewissen sieht uns dann evtl. als passiv und unnütz, weil wir den Kampf ums „Gute“ aufgegeben haben.
Wir sehen, dieses seltsame innere Gewissen (das überhaupt erst aus unserer inneren Spaltung entsteht) pfeift uns radikal zurück, wenn wir in die Nähe der 100 %igen Selbstannahme kommen. Es macht damit die Selbstannahme selbst unmoralisch, weil ich dann keine Moral und Religion, Ethik usw. mehr brauche, weil ich sie ja natürlicherweise in mir habe. Doch dann stehe ich außerhalb der Werte der Gesellschaft, weil ich den Kampf ums „Gute“ aufgegeben habe und es stattdessen bin.
Vielleicht bin ich ja jetzt in meiner Selbstannahme erst wirklich in der Lage, etwas Positives in meinem Leben zu gestalten, und das ohne Kampf.
All die Schuld, die uns zu moralischem und perfektionistischem Handeln antreibt ist, wenn wir sie genau betrachten, nichts anderes, als radikale Hybris, also Selbstüberschätzung. Sie hat keine Demut, weil sie so tut, als könne sie alles und alles sei willentlich zu erreichen und stellt sich so an die Stelle des Schicksals. Diese Schuld tut z.B. so, als hätte man auch anders gekonnt, wenn man einen „Fehler“ gemacht hat. Doch wenn wir anders gekonnt hätten, hätten wir es getan. Hier fehlt die Demut in unserer begrenzten Menschlichkeit.
Wir werden vielleicht schuldig, doch nur, um Illusion um Illusion immer mehr zu durchblicken und weiser zu werden. Auf der anderen Seite können wir gar nicht schuldig werden, da wir ja als ursprünglich geistige Wesen, die in dieser Welt heranwachsen müssen und dadurch in eine inneren Spaltung gehen, wir können nicht nur gut sein, was immer gut sein auch heißen möge. Wir sind gezwungen, Erfahrungen – wir nennen sie vielleicht „Fehler“ – zu machen, um uns am Ende einen zu können.
Allzu leicht wird jedes Schuldgefühl eine Ausrede, nicht wirklich lebendig zu sein und Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Wenn wir es so sehen, steht nun der Selbstannahme nichts mehr im Weg und wenn doch, übernehmen wir nicht wirklich Verantwortung für unser Dasein.
Wir sind ja hier in diesem Leben nicht, um alles aus sich selbst heraus zu schaffen, sondern am Schöpfungsprozess des allumfassenden Einen, zu dem wir ja auch gehören, als Kanal zu dienen. Stell ich mich in den Dienst dessen, bin ich an eine Inspiration angeschlossen und mein Schaffen wird anstrengungslos. Es ist dann mehr ein Wirken lassen aus der Angebundenheit an unser Ursprüngliches, als ein Tun. Diese Haltung ist demütig, aber sie gewährt uns, den inneren Kampf in Frieden zu bringen. Nun ist es möglich, sich selbst anzunehmen, wie man ist und sich selbst zu einen. Dies gelingt, weil wir uns nicht mehr mit einem guten und einem mangelhaften Teil in uns identifizieren, sondern mit etwas Größerem, über uns Hinausreichendem, mit dem allumfassenden Einen, dem wir dienen und es andererseits selbst sind.
Teil 2
Schuld ist im Wesentlichen nicht existent. Schuld entsteht künstlich in unserem Leben und zeigt uns, dass wir aus der Einheit gefallen sind. Wir haben gelernt, an das Konzept Schuld zu glauben, erschaffen es auf diese Weise und bringen es zur Wirkung. Schuld bestätigt die Illusion der Trennung. Gleichzeitig hat die Schuld immer etwas Spaltendes. Sie trennt uns von andern, die wir beschuldigen oder innerlich von uns selbst, wenn wir uns selbst anklagen. Das Zurückfinden in die Einheit würde nur über Versöhnung bzw. Selbstversöhnung gehen.
An Schuld zu glauben erschafft das, was wir „Karma“ nennen. Dies ist im Wesentlichen ebenso nicht existent, wird aber zur Wirkung gebracht, indem wir an die Schuld glauben.
Das Wesentliche in uns, das was wir wirklich sind, kann niemals schuldig werden. Indem wir jedoch an die Schuld glauben, sind wir schon „schuldig“ geworden. Wir haben etwas in uns verdichtet, sind sprichwörtlich aus dem „Paradies“ gefallen, da es in der Paradiesgeschichte ja auch um den „Fall durch Schuld“ geht oder sogar um die „Erbsünde“, welche wir durch diesen Fall auf uns gezogen haben. Diese Erbsünde, die durch „den Fall“, dadurch, Schuld für möglich zu halten entstanden ist, ist das „für wahr Nehmen“ der Illusion, anstatt das Wesentliche als wahr zu erkennen. Das Wesentliche hier ist, dass wir nicht schuldig werden können. Oder, dass wir nicht schuldig werden können, wenn wir uns mit dem Wesentlichen identifizieren. Wenn wir uns mit dem „Ich“ identifizieren, sind wir „schuldig“ geworden, indem wir die Illusion an die Stelle des Wesentlichen setzen. Die Lösung liegt also darin, das Wesentliche zu erkennen und sich als das Wesentliche zu erkennen und sich damit zu identifizieren, statt zu versuchen, perfekt zu werden, um somit diesem Schuldproblem zu entgehen. All unsere Selbst-WERT-Probleme stammen also aus dem Versuch, nach irgendwelchen inneren Richtlinien perfekt zu werden, an denen wir natürlich immer scheitern. Wir wollen also unsere Individualität und unser Ego behalten und trotzdem wie Gott sein. Dies führt immer zu Scheitern und Schuld. Stattdessen könnten wir erkennen, dass unser abgetrenntes „Ich“ eine Illusion ist und wir (in verdichteter Form) das sind, was wir „Gott“ nennen. Diese Selbsterkenntnis wäre ein Akt der Demut, da wir dabei unsere Ego-angst-gesteuerte „Ich-Identifikation“ aufgeben. Dies würde all unsere Selbstwertprobleme lösen. Wir wären zur (unserer) Einheit zurückgekehrt, uns bliebe keine innere Spaltung übrig, welche ein Konzept von „Schuld“ zuließe.
Weiterhin führt uns der Glaube an die Schuld unweigerlich dahin, schuldig zu werden, weil mich die Bewertung meiner Handlungen und Gedanken, die nicht meinen inneren Idealen entsprechen, unweigerlich schuldig werden lassen. Ein Glauben an die Schuld führt mich in die Schuld. Ich kann auf diese Weise kein „guter Mensch“ werden, weil ich meine „Schattenseiten“ dabei ausklammere. Was ich ausklammere, wird sich unweigerlich in meinem Leben bemerkbar machen und zwar solange, bis es integriert ist. Es gilt also, das sogenannte „Böse“ in sich auch zu integrieren, um es zu entdichten und um ganz zu werden. Nur als ganzer, geeinter, integrierter Mensch kann ich ein sozialer Mensch sein, der liebevoll mit sich und anderen umgeht. Die Angst vor den inneren „Abgründen“ und deren Desintegration führt uns allenfalls dazu, ein sozial konditionierter Mensch zu sein, der aus Pflichtgefühl heraus sozial ist. Doch das ist nicht der Sinn des Menschseins. Die Aufgabe ist, sein Herz zu öffnen, um das Licht der Liebe, die uns umgibt, durch es durchscheinen zu lassen; die geistigen Schwingungen, die um uns sind, durchzutönen (Lat. per sonare, Wurzel des Wortes, Person). Erst als ein Mensch, in dem alle Teile innerlich leben dürfen, bleibe ich mir und dem Leben nichts mehr schuldig und das Konzept der Schuld ist nicht mehr nötig.
Ich habe in meiner psychotherapeutischen Arbeit kaum jemand angetroffen, der bei tieferer Arbeit keine unbewusste Schicht von massivem Perfektionismus zeigte. Dieser innere Perfektionismus ist quasi ein künstliches Gegengewicht zu unserer Angst-Ego gesteuerten inneren Haltung der „Ich-Identifikation“. An dieses „Ich“ zu glauben und es permanent abzugrenzen und zu versuchen, es in Wehrhaftigkeit und Aggressivität zu schützen, hat einen hohen Preis (oft auch dem Ursprünglichen in sich selbst gegenüber). Ich gehe meiner Selbst verlustig, lebe in Trennung und Angst und im Selbstwertmangel, je mehr ich auch nach außen Selbstsicherheit zeigen mag.
Gelange ich dahin, Schuld und Angst als eine Illusion zu sehen, die aufgrund meiner inneren Trennung von mir selbst, sowie durch die Trennung mit dem allumfassend Einen zustande kommt, sehe ich auch, dass das ursprünglich Geistige in mir, welches wir Seele nennen, nicht schuldig werden kann. Wenn ich mich als das erkenne, bin ich jenseits der Schuld, doch wenn ich mich mit dem Angst-Ego gesteuerten „Ich“ identifiziere, leide ich an Perfektionismus und gleichzeitigem Selbstwertmangel.
Sollte die Gewichtigkeit der Schuld in meinem Leben zu Gunsten von mehr Vertrauen, Herzensöffnung und im-Einklang-mit-sich-selbst-sein abnehmen, heißt das natürlich nicht, dass man passiver, gewissenloser wird oder Verantwortung abgibt. Das würde jemanden schnell wieder in die Spaltung mit sich selbst und dem Wesentlichen führen. Im Gegenteil, im Einklang mit sich und dem Wesentlichen bin ich erst in der Lage, Verantwortung zu übernehmen und meine Potentiale im Leben umzusetzen, nur eben ohne den Druck, der aus dem Perfektionismus oder der Schuld entsteht. Einfach aus mir selbst heraus.
Quelle der Schuld
Wollen wir dem Phänomen von Schuld – also von Schuldzuwendung und Schuldgefühlen – auf die Spur kommen, müssen wir buchstäblich bei „Adam und Eva“ anfangen. In der Paradiesgeschichte wird die Entstehung, das Wesen und schließlich auch die Erlösung unseres Erdendaseins sehr verschlüsselt geschildert. Das Wesentliche in der Überlieferung der Genesis ist, dass dort der Mensch als dem göttlich/geistigen allumfassenden Einen völlig immanent entsteht. Er ist in einer Symbiose mit dem Göttlich/Geistigen. Er ist als eigenständiger Mensch somit noch gar nicht entstanden. Es ist, wie wenn wir als Baby geboren werden, so sind wir mit allen unseren Potentialen auf dieser Welt angekommen, aber wir sind noch abhängig, wir sind noch kein eigenständiger Mensch geworden.
Die nächste Stufe ist, dass der Mensch einen eigenen Willen bekommt oder diesen aufgrund seiner Potentiale entwickelt. Durch seine „Eigenwilligkeit“ trennt er sich aus dem Göttlich/Geistigen und wird eigenständig. Das ist ein Akt, der sich nicht nur am Anfang der Menschheit ereignet hat, die Paradiesgeschichte will uns sagen, dass dies ein archaischer Zustand ist, der sich ständig ereignet. Auch in unserem „Hier und Jetzt“.
Damit wir eigenständige Wesenheiten sein können, müssen wir mit eigener Entscheidungskraft ausgestattet sein.
Nur so haben wir auch für das Göttlich/Geistige einen Sinn. Wir sind in die konkrete Welt eingetreten, doch dahinter eins mit dem Göttlichen/Geistigen geblieben. Denn wir sind ja aus dem Göttlich/Geistigen „gemacht“ und können uns nicht wirklich davon entfernen.
Wir sind gedacht als Wesen, die dem Göttlich/Geistigen eine Welt der Dualität zugänglich macht mit unserem Reichtum an emotionalen Reaktionen. Wir leben die Trennung, können dadurch aber auch die Versöhnung immer wieder aufs neue leben.
Gleichzeitig sind wir die Arme und Beine, die Augen und Ohren und andere Sinnesorgane des Geistig/Göttlichen, der ohne uns alles das nicht hätte.
Durch den eigenen Willen sind wir in diesem Leben in eine scheinbare Trennung gefallen, aber an sich nur, um die Rückkehr immer wieder neu erfahren zu können.
Wir können die Trennung zu unserer göttlich/geistigen Heimat aufheben, indem wir in dieser Welt Kanal und Werkzeug des Göttlich/Geistigen sind, der Ihm/Ihr hilft, sein Königreich (wie Jesus sagte) auf Erden zu errichten.
Das ist unsere korrekte Aufgabe hier in diesem Erdenleben. Durch das Einnehmen dieser korrekten Haltung sollten wir nichts anderes als Glückseligkeit erfahren. Vielleicht zur Abwechslung nur ein bisschen Angst und Negativität erfahren, um in der Wiederaufnahme der korrekten Lebensaufgabe immer wieder Glückseligkeit aufs Neue zu erleben.
Dadurch jedoch, dass wir hier auf der Erde in die Dualität eintauchen und durch eine innere Spaltung gehen müssen, entwickelt sich, wie wir zuvor beschrieben haben, das „Ego“. Diesem „Ego“, das an sich die Funktion hat, für das eigene Überleben zu sorgen, haben wir jedoch zu viel Macht gegeben und wir lassen uns von ihm „verführen“, unser Leben nicht mehr in den Dienst des Geistig/Göttlichen zu stellen, sondern für sich ausgerichtet zu leben.
Dadurch gehen wir dem Strom und der Schwingung der Glückseligkeit verlustig. Das ist natürlich keine Strafe des „Geistig/Göttlichen“, es ist einfach eine Funktion. Wir geben in unserer Haltung die Botschaft an das Geistig/Göttliche, dass wir jetzt selbst für unsere Glückseligkeit sorgen wollen. Es ist, wie wir im Kapitel über die systemische Arbeit beschrieben haben, ein Kind, das sich über seine Eltern stellt und so der Kraft der Eltern und der Ahnen verlustig geht. Wir stellen uns in unserer egozentrischen Lebensausrichtung jenseits der Verbindung zum Geistig/Göttlichen. Es ist eine Entscheidung. Es ist die Anwendung des freien Willens, unserer Fei-will-igkeit. Wir können uns natürlich dazu entscheiden, nehmen damit aber die Anstrengungen eines Lebenskampfes auf uns, so dass wir das, was uns geschenkt werden könnte, nun mühsam erarbeiten müssen.
All das sagt uns die Paradiesgeschichte in verschlüsselter Form. Doch Schuld kommt bislang nicht vor, denn wie gesagt, die „Vertreibung aus dem Paradies“ ist keine Strafe, sondern unsere mehr oder weniger kollektive Entscheidung, jetzt „unser eigenes Ding“ machen zu wollen.
Was für das Göttlich/Geistige absolut OK ist. Das Geistig/Göttliche ist unsere natürliche Heimat und es stellt gleichermaßen unsere spirituellen Eltern dar, die natürlich ihre Kinder ins Leben entlassen und sie ihre eigenen Erfahrungen machen lassen.
Doch durch die Abwendung vom Geistigen/Göttlichen hin zu unserer egozentrischen Ausrichtung erfinden wir die Schuld selbst.
Der ursprüngliche Teil unserer Persönlichkeit, welcher mit der geistigen Heimat verbunden bleibt – der Teil den wir „inneres Kind“ genannt haben – empfindet es als nicht korrekt, sich von der eigentlichen Aufgabe abzuwenden. Und sich damit mehr oder weniger auch ein Stück gegen seine eigenen Urheimat, das, was man ja im Wesentlichen selbst ist, zu wenden.
Dieses archaische Phänomen ist wiederum vergleichbar mit einer Gesetzmäßigkeit, die wir aus der systemischen Arbeit kennen. Sobald wir beginnen, uns von unserer Herkunftsfamilie abzuwenden (damit meine ich nicht die natürliche Ablösung als junger Erwachsener), also, von ihren Werten und Lebensweisen und sich damit gleichermaßen über dies zu stellen, beginnt das „blinde systemische Gewissen“ in uns aktiv zu werden. Es versucht nun meist einen Ausgleich über ein Symptom herzustellen, weil jemand mit seiner Abwendung die Vollständigkeit des Systems in Gefahr bringt und somit die systemische Homöostase aus der Balance bringt. All das passiert z.B., weil jemand seiner Herkunft (seiner Herkunftsfamilie oder einem seiner Ahnen) die Ehre und die Anerkennung versagt. Erst wenn er sich wieder zugehörig fühlt und seine Herkunft ehrt, ist er frei, seiner eigenen Entwicklung nachzugehen. Das „blinde systemische Gewissen“ im „Kern“ des Systems hat nun keine Not-wenigkeit mehr, an einem Symptom festzuhalten. Diese „blinde systemische Gewissen“ muss nun keine Unbalance in der systemischen Homöostase mehr ausgleichen. Das Symptom jedoch war dabei nur ein Ausdruck der „Schuld“ gewesen, denn das systemische Gewissen hat die Wendung der individuellen Seele gegen seine Herkunft (die es ja selbst ist) als „Schuld“ gewertet.
In unserer Seele, oder dem ursprünglichen Teil in uns, den wir inneres Kind genannt haben, läuft der gleiche Prozess sozusagen „im Großen“ ab.
Wir wenden uns gegen unsere letztendliche Herkunft indem wir egozentrisch leben wollen und unserer ursprünglichen Funktion nicht nachkommen wollen. Unser „Ego“ sagt uns: „Wir könnten frei sein, wir wollen keine Funktion für wen auch immer sein oder übernehmen, wir wollen für uns selbst leben“.
Damit schalten wir die Versorgung mit „(Sinn)Fülle“ und Glückseligkeit aus, um all dies selbst zu erschaffen. Und gleichzeitig wertet etwas in unserer Seele die Wendung gegen unsere Herkunft als „Schuld“. Dadurch entsteht mit der Zeit ein Bodensatz von Schuldgefühlen, den wir permanent durch Aufwertung unseres Selbstwerts (Ego) auszugleichen versuchen.
Man könnte sagen, wir bleiben dem, was wir wirklich sind, der Geistig/Göttlichen Alleinheit, unsere wahre Funktion, unseren wahren Lebenssinn schuldig und buchen dies in unserem inneren Selbstwertkonto negativ. Und das alles, ohne es im Wesentlichen zu bemerken. Die unterschwelligen Schuldgefühle zeigen sich erst dadurch, dass wir nicht in vollem Maße zu unserem Selbstwert finden oder nur in seltenen Fällen die vollkommene Glückseligkeit erfahren können. Darüber hinaus kann die unbewusste „Sühne“ der Schuld zu Beziehungsproblemen, Lebenskrisen und Krankheiten führen. Auf diese Weise machen sich die inneren Schuldgefühle bemerkbar.
Wir könnten es auch ganz einfach so formulieren: wir erliegen dem Missverständnis zu glauben, dass das Leben uns gehört, es ist jedoch nur von der allumfassenden Einheit „geliehen“. Unser individuelles Dasein ist dazu da, das, was wir „Gott“ nennen, überall dort, wo das Göttlich/Geistige noch verdichtet ist, zu entdichten. Unsere Individualität ist nur ein Werkzeug dessen. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen, wir haben das Leben nicht gemacht, es kommt von wo anders her auf uns zu. Wir werden vom Leben gelebt, das in uns an-wesend ist, in uns west, doch tun wir so, als sei es unseres. Dadurch aber, dass wir es für uns in Anspruch nehmen, kreieren wir auf die beschriebene Art eine „Grundschuldigkeit“. Vermutlich war es dieser Umstand, der mit dem Begriff „Erbsünde“ verschlüsselt wurde. Wir sehen dabei, wie völlig irreführend unsere landläufige Interpretation dieses Begriffs ist. Für uns impliziert der Begriff, dass wir etwas falsch machen oder gemacht haben und nun die Konsequenzen tragen müssen. Wenn wir genauer hinsehen, erkennen wir jedoch, dass wir selbst die Schuld kreiert haben als Ausgleich dazu, so leben zu können, wie wir es tun. Es ist uns ja frei gestellt, was wir kreieren.
Denn nur, wer sich frei gegen das Geistig/Göttliche, sich gegen seine Natur stellen kann, kann auch fei-willig zurückkehren, um sich selbst als das Geistig/Göttliche zu erkennen. Kann ich mich als dem Geistig/Göttlichen immanent erkennen, kann ich zwar in Freude zu meiner Individualität, aber auch in Demut zu dem, was ich letztendlich bin, meine korrekte Lebensaufgabe wieder aufnehmen. Ich kann eine dem ganzen dienende Haltung einnehmen, aber nicht als „Knecht“ einer ominösen spirituellen Instanz, sondern als Diener meiner selbst, doch diesmal nicht im egoistischen Sinne.
Solange ich mich aber mit dem, was ich für meine Identität halte identifiziere, bleibe ich dem Leben und mir selbst etwas schuldig. Ich bleibe meinem authentischen Selbst etwas schuldig, das sich selbst dient, in dem es dem andern und dem Leben dient.
Solange ich noch die Illusion einer vom Ganzen abgetrennte Identität nähre, bucht etwas in mir, um mir diese Illusion leisten zu können, auf meinem Selbstwertkonto ins Minus.
Dies führt wie gesagt zu einem im Bodensatz der Persönlichkeit liegenden Schuldgefühl, dessen sich das „Ego“ bemüßigt fühlt, es künstlich auszugleichen.
Ohne dass man sich im herkömmlichen Sinne etwas zu schulden hat kommen lassen, schwelt etwas in einem, das ihn hindert, sich selbst voll und ganz anzunehmen.
Wie es in einem Liedtext von Reinhard Mey heißt:
„Du hast nicht gestohlen, nicht betrogen,
und wenn irgendmöglich nicht gelogen,
oder wenn, dann ist das wenigstens schon eine ganze Weile her.
Hast fast nie nach fremden Gut getrachtet,
und fast immer das Gesetz geachtet,
aber deine Ruhe findest du trotz alledem nicht mehr.“
In genialer Weise wird die Situation dieses „Bodensatzes von Schuldgefühlen“ in der Seele in dem Roman „der Prozess“ von Franz Kafka beschrieben:
Die beinahe absolute Unregierbarkeit dieses „archaischen schlechten Gewissens“ nimmt in dem Roman die Form eines völlig mysteriösen Gerichts ein, sowie eines nicht nachvollziehbaren Prozesses und einer ganz und gar ungreifbaren Anklage. Obwohl der Protagonist der Geschichte extrem „blutarm“ lebt und sich so gar nichts zu schulden hat kommen lassen, fühlt er sich, aufgrund einer ominösen Festnahme und Anklage, schuldig und zeigt dies in Rechtfertigungen und Unschuldsbezeugungen, die ihn eher verdächtig erscheinen lassen, als eine „Unschuld“ bezeugen. Er verstrickt sich dadurch immer mehr in Widersprüchen, obgleich es im „Außen“ nichts in seiner Biographie gibt, wo er gegen ein Gesetz verstoßen hätte. Hier schlägt der unbewusste Bodensatz der Schuldgefühle zu, der ihm sagt: „Wenn du angeklagt bist, muss du dir auch was zu schulden kommen lassen haben“. Er kann nicht zu einer „Unschuld“ stehen, die in ihm nicht vorhanden ist. Er fühlt sich von vornherein schon gespalten und entzweit. Bevor jemand auch nur eine Anklage vorträgt, hat er sich unbewusst selbst angeklagt, in seinem „unbescholtenen Prokuristendasein“ völlig am Leben vorbei gelebt zu haben und seiner immanenten Lebensaufgabe nicht nachgekommen zu sein.
Bleibe ich also dem Leben meinen Beitrag schuldig, verbuche ich negativen Selbstwert. Oder besser: Ich bezahle mit Schuldgefühlen, um mich meiner Lebensaufgabe und meinem Lebenssinn nicht stellen zu müssen, und um ein egozentrisch ausgerichtetes Leben leben zu können. Ich kaufe mich also frei. Das ist eine Entscheidung, die ich selbst treffe, die der Mensch in seinem Mensch sein selbst erfunden hat. Das hat nichts mit der Strafe „Gottes“ zu tun.
Haben wir auf unserem Selbstwertkonto jedoch im „Soll“ gebucht, ist ein Ungleichgewicht entstanden und der Versuch, dies wieder auszugleichen, ist künstlichen Perfektionismus und moralistisches Gebaren zu entwickeln. Erinnern wir uns nochmal an den Ausspruch Lao-Tzes:
Geht der große Sinn zugrunde,
so gibt es Sittlichkeit und Pflicht.
Kommen Klugheit und Wissen auf,
so gibt es die großen Lügen.
Werden die Verwandten uneins,
so gibt es Kindespflicht und Liebe.
Geraten die Staaten in Verwirrung,
so gibt es die treuen Beamten.
Ist der große Sinn einmal zugrunde gegangen, genügt es nicht mehr einfach nur, Mensch zu sein, wir müssen ein „guter Mensch“, ein perfekter Mensch, ein „gottähnlicher Mensch“ sein, oder das zumindest nach außen zeigen. Doch durch höhere perfektionistische Ideale kann noch viel weniger erreicht werden und wir buchen immer mehr ins „Soll“ und verlieren an „Haben“.
Die einzige Lösung aus dieser Lebensverstrickung ist die Selbstvergebung. Immer wieder kamen Menschen, welche ihre korrekte Lebensaufgabe wahrnahmen (wie Jesus, Buddha, uva.) und zeigten uns, dass nur die Selbstvergebung und die vollständige Annahme unserer Selbst die „Erlösung“ ist. Doch die kann niemals durch eine „äußere“ Instanz kommen, da die Verstrickung nicht im „Außen“ entstanden ist. Ich muss die Selbstvergebung innerlich vollziehen, weil es „meine“ Idee war, mit Schuld für nicht übernommene Lebensverantwortung zu zahlen. Wir können sagen, „das war ein netter Versuch“ und er ist absolut OK, er hat zwar viel Leiden geschaffen, aber damit auch Erfahrungen gebracht, doch jetzt ist es Zeit, erwachsen zu werden.
Es ist Zeit, aus der Kindposition herauszugehen, in der wir uns wie in der „Trotzphase“ gegen unsere Herkunft wenden und sagen, ich will nicht dienen, ich will für mich selbst leben, weil wir nicht erkennen, dass dieser Dienst nicht etwas „Übergeordnetem“ gilt sondern dem, das was wir letztendlich selbst sind. Wir sind das Geistig/Göttliche, wir sind dem immanent. Wir sind selbst das Leben, dem wir dienen könnten, wenn wir aus dem Trotz gingen und die Verantwortung übernehmen würden. So würden wir uns und dem Leben nichts schuldig bleiben und wir würden die Fülle in Besitz nehmen können, die seit Anfang aller Zeiten auf uns wartet.
Wie in Kafkas „Prozess“ wehren wir uns gegen eine Schuldanklage in unserem Inneren und erkennen nicht, dass wir in Wirklichkeit gar nicht schuldig werden können. Das, was wir „Karma“ nennen, ist offensichtlich wirksam. Aber es stammt nicht vom Geistigen/Göttlichen, wir haben es erfunden, in dem wir daran glauben. Weil wir es glaubten es zu brauchen, um so leben zu können, wie wir es tun. Jetzt ist es ein Selbstläufer geworden und „funktioniert“. Wir haben uns mit dem „Karma“ eine Instanz geschaffen, die uns jetzt wieder auf uns zurückwirft und uns einengt. Wir haben Prinzipien aus dem Geistigen/Göttlichen genommen (denn aus dem ist ja alles gemacht) und haben Schuld und „Karma“ ins Leben gebracht, welches den gleichen illusionären Charakter hat wie das materielle Leben selbst. Doch solange wir daran glauben, wirkt es. Wir bezahlen mit dieser Kreation, um abgetrennt von unserer geistigen Herkunft leben zu können, doch müssen wir uns selbst dadurch anklagen und spalten. Doch weder Klage noch Ausgleich sind nötig, wenn wir unsere wahre Natur erkennen. Diese Erkenntnis ist die Selbstvergebung. Die Selbstvergebung ist das Tor, durch das jeder von uns schreiten muss, um ganz sich selbst sein zu können, sich ganz zu einen und anzunehmen und ganz sein authentisches Potential leben zu können. Doch da wir uns selbst anklagen, können wir uns auch selbst vergeben. Dies ist das „Wunder“, von dem in „ein Kurs in Wundern“ gesprochen wird. Doch dazu ist ein „Quantensprung“ nötig. Jegliche Selbstanklage läuft als Funktion im Unbewussten ab, während die Selbstvergebung und das Wiederkennen von uns als das Geistig/Göttliche, das nicht schuldig werden kann, Bewusstsein verlangt. Es braucht also, um diesen „Quantensprung“ oder dieses „Wunder“ vollziehen zu können, einen Akt des Erwachens aus dem maschinenhaften Unbewussten hinein in die Bewusstwerdung. Jede Bewusstwerdung ist letztendlich ein Wiedererkennen dessen, was ich wirklich bin. Ich erkenne meine Verantwortung und erkenne mich als Kanal oder Werkzeug des Geistig/Göttlichen als einen Dienst am Ganzen und somit auch an mir selbst.